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Die (fast) verlorene Identität
 

Seit 5. Mai 2012 gibt es ViennaCityTypeFace auf Instagram. Seit damals zeige ich Fotos von Wiener Geschäftsbeschriftungen, die mir auf die eine oder andere Weise gefallen. So wie sie sind. Mit der Umgebung, die einfach da ist. Mit Autos davor, mit Menschen, die durchs Bild laufen, mit Verkehrszeichen, die ein vermeintlich tolles Foto unmöglich machen. Manchmal das ganze Geschäftsportal, manchmal nur Teile davon, manchmal nur Teile einer Beschriftung oder gar nur eine Nahaufnahme von einem einzelnen Buchstaben. Manche Geschäftsbeschriftungen tauchen öfter im Feed auf. Weil sie einfach schön sind, tolles Design, beachtliche Handwerkskunst, versehen mit den Zeichen der Zeit.

Man findet sich mit Gleichgesinnten zusammen, das Ganze wird International, es wird nur mehr von Signs gesprochen. Signs – irgendwie handlicher als Geschäftsbeschriftungen. 

Langsam verschwinden aber auch die ersten Signs. Schon 2012. Manche können gerettet werden, manche werden aus Unwissenheit heruntergerissen und auf den Müll geworfen. Doch das Blatt wendet sich.  Seit 2016 werden die Verluste immer mehr, die Lücken werden größer. Und es beginnt ein Wettlauf mit der Zeit. Die Gründe sind hinlänglich bekannt. Alte Geschäfte haben keine Nachfolger und sperren zu. Die Mieten in guten Lagen werden so hoch, dass die alteingesessenen Geschäftsinhaber sie nicht mehr erwirtschaften können. Die thermischen Sanierungen werden gefördert, was vor allem jene alten Signs betrifft, die bis dato niemand entfernen wollte und die dadurch zu Hinweisen auf das einstmals rege Treiben in den Straßen wurden. Auch sie müssen nun weichen. 

Manchmal können Signs wirklich in letzter Minute gerettet werden, manchmal verschwinden sie einfach. Manchmal wird monatelang verhandelt und gefeilscht, manchmal werden Signs über Nacht einfach abmontiert und gestohlen. Manchmal entbrennt ein richtiger Kampf unter den Sammlern, wer denn nun die älteren Ansprüche an ein Sign geltend machen kann. Manchmal interessiert ein schönes altes Sign einfach niemanden.

So gut es ist, dass gerade von den Verlusten des letzten Jahres viele Signs gerettet werden konnten, so schmerzlich wirkt es sich im Stadtbild aus. Ich gebe zu, nicht jeder betrachtet die alten Signs als wichtigen Teil des Stadtbildes, manche sind auch froh wenn das alte Zeug endlich wegkommt. Aber mit dem Verlust dieser alten Signs geht ein Stück Individualität verloren. Ein Stück Identität. Denn es handelt sich um die Signs jener Geschäfte, die in Wien beheimatet waren. Die vielleicht noch eine zweite oder dritte Filiale in Wien hatten. Aber eben lokale Wiener Geschäfte waren, die es nur hier gegeben hat. Der Grund, warum man in einen bestimmten Bezirk gefahren ist, da es nur dort die gesuchten Waren gegeben hat.

Heute werden die Geschäftsportale immer uniformer, einfacher, austauschbarer, die Beschriftungen oft lieblos gestaltet, sofern man überhaupt noch von Gestaltung sprechen kann. Nationale und internationale Ketten machen sich breit und tauchen an immer mehr Stellen auf. Wie in jeder großen – und auch kleinen – Stadt. Sie kommen und gehen. Sie bieten überall das gleiche an. In jedem Geschäft der Stadt, in jeder Stadt in der sie zu finden sind.

Mittlerweile verwandelt sich ViennaCityTypeFace zu einem Archiv der nicht mehr vorhandenen Signs. Von derzeit fast 1500 Fotos im Instagram Feed sind etwa 350 schon Geschichte. Und die nächsten Opfer sind schon ausgemacht. Leider ist kein Umdenken in Sicht, und trotz vieler Aktivitäten der bekannten Akteure wird sich nichts mehr ändern in Wien. Zu Recht erinnern manche daran, dass sich das Stadtbild immer schon verändert hat, auch bei Geschäften immer ein Kommen und Gehen war, Beschriftungen immer wieder unter Verwendung moderner Techniken erneuert wurden. Aber es waren immer unsere Wiener Geschäfte, die das Stadtbild mitgestaltet und unverwechselbar gemacht haben. Der Anteil der nicht mehr vorhandenen Signs wird also mehr werden, bis irgendwann ....



 

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ACHIM
Gauger

Achim Gauger lebt seit mehr als 20 Jahren in Wien und beschäftigt sich in seinem seit Mai 2012 auf Instagram laufenden Fotoprojekt „ViennaCityTypeFace“ intensiv mit [Geschäfts]Beschriftungen, die ihren Ursprung in Wien haben und Teil des Wiener Gesichts, der optischen Wiener Identität sind. Achim leitet das Büro für Entkomplizierung.

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